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Christoph Schlingensief - das Leben feiern

Do
24
Okt
2013

Es ist müßig definieren zu wollen was einen Künstler ausmacht - im Besten Fall ausmachen kann. Über Christoph Schlingensief, der sich jeder Kategorisierung entzieht, unser System der Kunst unbändig und produktiv in Frage gestellt hat, muss man schreiben - besonders an diesem Tag. Genau heute vor 53 Jahren wurde Schlingensief geboren und am 21. August 2010 starb er an Krebs. Dazwischen liegt ein hochenergetisches Leben und ein winziger roter Faden zum Kunsthaus Eigenregie.

Es war einmal im vorigen Jahrtausend. Genauer gesagt im Frühjahr 1998, schaute ich die Harald Schmidt Show. Zu Gast war: Christoph Schlingensief, dessen Film "Das Deutsche Kettensägenmassaker" mir in ungläubiger Erinnerung geblieben war. Welche Assoziationen habt ihr, wenn ihr an Kettensägenmassaker denkt? Genau! Für alle, die diesen frühen Schlingensief Film nicht kennen sollten: 1990 stürmten die Wessis über die gefallene Mauer - um die Ossis zu verwursten. Doch dazu später mehr. In der Talkshow des intelligenten Lästermauls Harald Schmidt präsentierte Schlingensief sein damals aktuelles Projekt CHANCE 2000. Eine Partei, die quasi das Phlegma und die Eigenarten der Parteienlandschaft konterkarierten sollte. Die Zuschauer und selbst Harald Schmidt wirkten leicht irritiert. Ich dagegen sass einige Tage später im Auto nach Berlin, sah erst dem Wahlkampfzirkus zu und fand es eine mutige und richtige Kunstaktion, für die Schlingensief mich dann vereinnahmte. Und so landete ich als Spitzenkandidat der tatsächlich zur Bundestagswahl zugelassenen "Partei der Letzten Chance" für Bayern und machte mit einigen schrulligen Mitstreitern Wahlkampf.

Christoph Schlingensief & MarioFalcke - LMU MünchenSchlingensief fieberte bei diesem Projekt zwischen künstlerischem Aberwitz, genialen theatralen Momenten - wie  z.B. im Wahlkampfzirkus mit dem Esel über die 5% Hürde zu springen - aber auch ernsthaftem Aufschrei gegen diese institutionalisierten Parteien, bei denen das Volk, bitteschön, alle vier Jahre seine Stimme abzugeben hätte um dann endlich stumm zu bleiben. Das Gegenmotto lautete also urdemokratisch: wähle dich selbst! Es ging weder um linke Ideologie oder extremes politisieren - aber der Spagat zwischen der von der Berliner Volksbühne bezahlten Inszenierung, dem Wahlkampfgetöse und riesigen Medienecho war einmalig. Zwar gehört es schon lange zur Theatertradition, Abseits der Bühnen Inszenierungen zu spielen. Ich wage aber zu behaupten: Noch nie trat ein Theaterstück zu der wichtigsten Wahl in einem Land an, mobilisierte dazu Tausende "Mitspieler" und instrumentalisierte hierzu genauso die Medien wie Parteien. Als Schlingensief in einer Pressekonferenz seiner Partei Chance 2000 verkündete, dass die Partei sich zu einer Aktiengesellschaft umformieren will und damit als erste Partei öffentlich erklärt käuflich zu sein, klinkte sich gar der Bundeswahlleiter ein um in den Tagesthemen verkünden zu lassen das dies zu unterbleiben habe.

Bei einer Veranstaltung, die ich damals für Schlingensief in München organisierte, befragte ein TV-Team des BR Schlingensief auch zu seinen Filmen. Etwa ob er "Das Deutsche Kettensägenmassaker" im Nachhinein nicht für ebenso überzogen halten würde wie später einmal diese seltsame Partei, die er nun initiierte. Seine Antwort: lautete 1991 der Filmslogan "Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst" müsste er jetzt noch nachlegen. Nach der Wiedervereinigung hätte der Westen aus dem Osten erst einmal Grütze gemacht.

Vor fast genau 15 Jahren gipfelte Schlingensiefs Partei in einer finalen Wahlkampfshow in der Berliner Volksbühne. Lustvoll und mit dem Slogan "Scheitern als Mario Falcke & Christoph Schlingensief - Volksbühne,  Berlin 1998Chance" endeten auch für mich einige Monate Überanstrengung, mancher Zoff und viele geniale Momente mit Christoph.

Schlingensiefs Ruf wuchs zu Lebzeiten, gerade in den letzten Jahren, in denen seine produktivsten und qualitativ bemerkenswertesten Projekte realisiert wurden. Mehr und mehr entdeckt auch die internationale Kunstwelt Schlingensiefs expressive Werke - so 2012 die Tate Galerie in London, 2014 wird es das MoMa in New York sein. Und zwischendrin erlauben wir uns auch im Kunsthaus Eigenregie am 02. November 2013 eine kleine Hommage auf Christoph Schlingensief. Konkret geht es um sein letztes Projekt, ein aus dem Nichts geschaffenen Dorf in Burkina Faso.

Die Regisseurin Sibylle Dahrendorf begleitete Schlingensief immer wieder in den letzten Lebensjahren, produzierte eine eindringliche und unbedingt sehenswerte Dokumentation über Schlingensiefs letztes Projekt, welches selbst nach seinem Tode beachtlich weiter wächst. Sibylle Dahrendorf wird an diesem Abend unser Gast sein, eure Fragen beantworten. Ebenfalls am 02. November wird Marie Köhler anwesend sein, die als Künstlerin und Fotografin das Wachsen von Schlingensiefs Dorf in Burkina Faso nicht nur erlebte, sondern in einem eigenen Fotoprojekt mit ca. 150 Kindern erlebbar macht. Marie Köhler stellt im Kunsthaus Eigenregie korrspondierend eine Auswahl von Arbeiten der Kinder aus.

Und da es nicht mehr lange bis Weihnachten sein wird, mancher vielleicht ein gutes und anregendes Geschenk für seine Liebsten sucht, auch hier kann  Schlingensief ungebrochen punkten. Das von seiner Frau nach dem Tode herausgegebene Buch
"Ich weiß, ich war’s. Die Erinnerungen von Christoph Schlingensief" wird von den Lesern empathisch gefeiert, zeichnet Schlingensief nicht nur als Künstler, sondern auch als Ausnahmemensch aus. Das klingt euch zu übertrieben? Dann seht selbst:

von Mario Falcke 24.10.2013, 02:40 h


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